Sonntag, 5. Juli 2020

Bye-bye, Rubikon

Schade eigentlich. Da war vor wenigen Jahren doch tatsächlich mal eine publizistische Plattform namens “Rubikon” gestartet, die sich auf die Fahnen geschrieben hatte, kritisch, unabhängig und fundiert zu berichten. Als Autoren und Unterstützer laute namhafte Köpfe aus Wissenschaft, Politik und Journalismus.

Man wolle dort „kritisch Politik und Gesellschaft analysieren – auf einem hohen Niveau, aber niemals mit dem Anspruch, das jeweilige Thema erschöpfend, oder gar im Alleinbesitz der Wahrheit befindlich, zu beschreiben.“ So steht es im Redaktionsstatut. Das Ganze auf Basis eines humanistischen Welt- und Menschenbildes.

In der Anfangszeit waren die Artikel auch dementsprechend. Das meiste schien fundiert recherchiert, in der Texten ausführlich dargelegt und mit Quellen belegt und verlinkt. So, wie man sich das als mündiger Leser in Zeiten eines hysterischen copy&paste-Journalismus von jedem Artikel wünschen würde.  Dazu namhafte Autoren, Wissenschaftler und Philosophen, die Ereignisse des Zeitgeschehens aus anderen Blickwinkeln beleuchteten und dabei den Mainstream einer kritischen Prüfung unterzogen, ohne ins Verschwörerische abzugleiten. Anspruchsvolle Texte, manchmal anstrengend zu lesen, aber meist erhellend und informativ.

Wenn ich mir allerdings die heutige Homepage anschaue, graust es mich.

Von den zwölf Aufmacher-Artikeln auf der Frontseite beschäftigen sich elf mit Corona bzw Covid-19.  Verzapft zum überwiegenden Teil von Philosophen, Psychologen und einer dubiosen „Weltredaktion“. Lediglich zwei Naturwissenschaftler werfen ihre Mützen in den Ring, einer davon der Herr Bhakdi, der bisher vor allem mit seiner Kritik der Shutdown-Maßnahmen von sich reden machte. Dass Herr Bhakdi hier fleißig für sein reißerisch betiteltes Corona-Enthüllungsbuch Werbung macht, stößt bei Rubikon, die sich sonst für keine Konsum-Kritik zu schade sind, scheinbar niemandem auf.

Tenor, in unterschiedlichen Ausprägungen und aus diversen Blickwinkeln: Wie „die Mächtigen“ weltweit „die Bevölkerung“ in diktatorische Verhältnisse treiben und keiner merkt’s, außer die kritischen Top-Checker-Bunnies bei Rubikon, die zudem auch gleich die ganzen übertriebenen Corona-Lügen aufdecken, Motto „nicht schlimmer als Grippe, bitte Hände waschen und weitergehen, es gibt nichts zu sehen“.

Nach der Lesart sind die getroffenen Maßnahmen „psychische Mißhandlung“ der Regierung bzw. eines nicht näher beschriebenen „Corona-Establishments“ an der schutzlosen Bevölkerung, einziges Ziel: aus mündigen Bürgern willfährige Arbeitssklaven zu machen zur Schaffung einer quasi-faschistischen Diktatur zur Bereicherung der Pharmaindustrie und anderer „Eliten“, und das am besten weltweit. Symbol der Unterdrückung: die Mund-Nase-Maske als Menetekel der Unterordnung und der Aufgabe sämtlicher Bürgerrechte.

Nebenbei wird in jedem dritten Artikel noch auf Christian Drosten herumgekloppt, wobei sich Rubikon mit BILD in bester Gesellschaft befindet. Allein, dass die „Mainstream-Medien“ dem Wissenschaftler weitgehend vertrauen, macht ihn in den Augen der Rubikon-Schreiberlinge verdächtig. So wird aus dem bis dahin unbescholtenen Wissenschaftler ein mephistohafter Scharf- und Geschäftemacher, dem man lauter unlautere Absichten unterstellt. 

Dabei bedienen sich die Autoren desselben Framings, dessen sie die „Mainstream-Presse“ gerne zeihen, in dem sie z.B. fortwährend von „Corona-Wahnsinn“, „Propaganda-Pandemie“ oder „Impfhektik“ reden. Da ist man sich dann auch nicht zu schade, den Schulterschluss mit Impfgegnern zu suchen und den Erfolg von Impfkampagnen mit dem „Profit der Pharmaindustrie“ zu relativieren.

Roter Faden bei Rubikon, wie er in fast jedem Beitrag irgendwie zum Ausdruck kommt, Stand heute: Die Regierung und eigentlich alle Parteien im Parlament sind lediglich exekutive Lobby-Anhängsel der Industrie. Sämtliche Medien sind entweder im Regierungssinn gleichgeschaltet und lügen, einzig Rubikon und einer Handvoll von Getreuen kann man vertrauen. Außerdem möchte man sich noch nach rechts abgrenzen, denn mit „kritischen Köpfen“ in Pegida, AfD und ähnlichen mehr möchte man in der humanistischen Blase nichts zu tun haben.  Und Verschwörungstheoretiker mag man sich auch nicht schimpfen lassen, das sind allerhöchstens die andern, auch wenn man im Wort- und Denksinn dasselbe Vokabular benutzt. Nach dem Motto: „Ich sage dasselbe, meine aber etwas anderes.“
Und die USA sind böse, böse.

Das sind keine kritischen Analysen mehr, und erst recht nicht auf hohem Niveau. Beinahe jeder Beitrag auf der Homepage von heute ergeht sich in plattester Polemik. Wo Ideologiekritik draufsteht, ist leider nur Ideologie drin.
Schade, war Rubikon doch einst hoffnungsvoll gestartet, mit dem glaubhaften Anspruch, ein „Magazin für die kritische Masse“ sein zu wollen. Nun haben sich die Kritiker der Filterblasen ihre eigene geschaffen. Und finden nicht mehr heraus – so scheint es.

Was die Macher – bei aller berechtigten Kritik an Medien, Politik und Wirtschaft – in ihrer Berichterstattung leider immerfort implizieren, ist der sprichwörtliche „Schwarze Mann“.
Denn in und zwischen den Zeilen liest man allenthalben, dass eine mehr oder weniger unsichtbare Hand in nahezu teuflischer Absicht die Geschicke der Menschheit lenkt. Also mithin „das Böse“ an sich, in Gestalt einer weitgehend gesichtslosen, diabolischen „Elite“, deren einziges Ziel die Weltherrschaft ist, bzw. der Erhalt derselben, und der dafür jedes Mittel Recht ist, je subtiler und hinterfotziger, desto besser.
Dieser Glaube an zielgerichtetes und gemeinsames Handeln einer mit beinah unerschöpflicher Macht ausgestatteter Gruppe elitärer Wesen trägt starke pseudo-religiöse Züge. Dass es eine solche Gruppe in der Geschichte noch nie gegeben hat, obwohl deren diabolische Eigenschaften und Absichten im Laufe der Zeit schon vielen Gruppierungen zugeschrieben wurden, ist für die Mystik-Gläubigen noch lange kein Indiz dafür, dass sie sich auf dem Holzweg befinden. Wer sich Kopf an Kopf mit Prometheus wähnt, bereit, sich den Göttern in den Weg zu stellen und sich gar zu opfern, um den Menschen das Feuer bzw das Licht der Erkenntnis zu bringen, der darf nicht zaudern oder zagen.

Schade, denn mit Zweifel an der eigenen Position beginnt gute Kritik oft erst. Diese Form der Objektivität scheinen die Rubikonisten bei ihrem Kampf um Wahrheit und Erkenntnis aber aufgegeben zu haben. Wer sich auf die Fahne schreibt, Kritiker des Mainstreams zu sein, der würde seinen USP und als publizistische Plattform ggfs. seine Leser verlieren, sollte er versehentlich dem Mainstream einmal Recht geben. Wer aber von vornherein ausschließt, dass die "Mainstream-Meinung" auch mal versehentlich die richtige sein könnte, beraubt sich der eigenen Objektivität und tapst genau so halbblind durchs Gelände wie die "System-Medien", denen man genau diese Auf-einem-Auge-Blindheit immer  vorwirft.

Denn wer am Ende kritisch gegen alle ist, kann kaum noch kritisch gegen sich sein. Wenn ich der einzige bin, dem ich vertraue, ziehe ich mir selbst den Boden unter den Füßen weg, wenn ich schlußendlich auch noch mich selbst in Frage stelle. Letzteres mag allenfalls Privatpersonen leicht fallen, die eine gewisse Lust am Scheitern umtreibt. Menschen mit einer Mission, wie es die Rubikon-Macher augenscheinlich sind, würden damit den Kern ihres Schaffens in Frage stellen. Das dürfte ein äußerst schmerzhafter Prozess sein, den nur die wenigsten bereit sind, in Angriff zu nehmen.

PS: Ach, und zu Corona: Welche der Wissenschaftler nun "Recht" behalten werden, ob die Maßnahmen nun zu drastisch oder zu willkürlich waren/sind und wie  die Pandemie ohne sie verlaufen wäre/würde, werden wir evtl. nie oder erst viel später erfahren.
Ebenso könnte man diskutieren, ob nicht die Kritik an den Shutdown-Maßnahmen nicht völlig überzogen und unverhältnismäßig ist ("Corona-Wahnsinn"). Sicher scheint mir, dass wir bislang keine Übung im Umgang mit globalen Pandemien hatten und daher auch viel probiert wurde und wird. Sicher scheint ebenso, dass dies eine Chance sein wird, aus Fehlern zu lernen. Sicher auch, dass Corona für viele eine Lehrstunde in Demut ist.
Welchen finsteren Hintermännern der Monate andauernde, temporäre Stillstand des Lebens und des Konsums in Deutschland und der Welt denn nun nützen soll, die Antwort bleibt uns Rubikon nämlich schuldig. Sie lautet vermutlich: 42.

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