Mittwoch, 21. Oktober 2009

Aufkleberitis

Gestern prangte mir von der Heckscheibe eines Ford Kombi folgende herzchenverschnörkelte Aufschrift entgegen "Wir haben uns getraut - Steffen und Juliane"
Was wetten wir, daß dieser spätpubertäre, pseudoromantische Kitsch nicht auf "Steffens" Mist gewachsen ist? Denn - nach dem Interieur des Wagens zu urteilen - ist er derjenige, der jeden Morgen damit zur Baustelle fahren und dort den Spott seiner Kollegen ertragen muß. Wie gut stehen die Chancen, daß sich die beiden in 3 Jahren bei "Britt" wiederfinden und sich dort von gegenüber liegenden Stehpulten aus anschreien?

Eigentlich fehlte da ja nur noch ein "Kevin an Bord"-Aufkleber direkt daneben. Gruselig.

Überhaupt: Hat einer von euch schon mal seinen Fahrstil geändert, weil im Wagen vor euch ein "Baby an Bord"-Sticker die Heckscheibe verzierte? So ein Aufkleber dient doch wieder nur als ein weiteres Medium, mit dessen Hilfe Eltern ihrer Umwelt den Stolz auf die bloße Existenz des kleinen Scheißers unter die Nase reiben. Der Erfinder dieses Stickers hat sich wahrscheinlich schon dumm und dusselig verdient, ohne daß seiner Kreation ein vernünftiger Mehrwert innewohnen würde. Denn obwohl der Text ja ein wenig diffus als Warnhinweis zu verstehen ist, fragt man sich doch, wovor hier eigentlich gewarnt wird. Bei "Atomsprengkopf an Bord" wäre die Sache klar. Aber so? Kein Autofahrer hat jemals auch nur einen lumpigen Zentimeter mehr Abstand zum Vordermann eingehalten, nur weil dieser ein Kind auf dem Rücksitz festgeschnallt hatte. Logischer wäre es doch, wenn der Kinderchauffeur selbst sich den Sticker in sein eigenes Sichtfeld pappen würde, als stumme Mahnung, vorsichtiger als sonst zu fahren, solange Junior sich hinten im Kindersitz Salzstangen in die Nüstern schiebt. Aber macht das einer? Natürlich nicht.

Allerdings seh ich diese und andere Autoaufkleber immer seltener. Ausgerechnet in einer Zeit, in der die Öffentlichmachung des Privaten Hochkonjunktur feiert, mag scheinbar niemand mehr der Welt seine Gesinnung von der Heckklappe seines Autos aus kundtun. Vorbei die Zeit, als noch an jedem zweiten Auto "Ein Herz für Kinder" klebte und an jeder Freizeit-Öko mit "Ich bremse auch für Tiere" den nachfolgenden Verkehr vor seinen riskanten Fahrmanövern warnte. Kaum ein Mercedesfahrer schmückt sein Fahrzeug heute noch mit der an einen auslaufenden Vogelschiß erinnernden Sylt-Silhouette. Kaum jemand pappt sich noch einen der topfdeckelgroßen "Heidepark Soltau" oder "Fantasialand"-Sticker auf's Heck. Nicht mal die BILD-Zeitung begleitet ihre Anti-irgendwas-Hetzkampagnen noch mit irgendwelchen schwachsinnigen Stickeraktionen.

Die goldene Zeit der Aufkleberitis scheint vorbei. Mag sein, daß sie in ein paar Provinz-Nischen noch im Verborgenen blüht. Dort, wo Menschen noch 80er-Jahre-Puschelfrisuren zur Stonewash-Jeans tragen, Mantawitze erzählen und bei Wolle Petry, Patrick Swayzee und Samantha Fox ins Schwärmen kommen. Ansonsten war's das.
Kann sich noch jemand daran erinnern, daß sich vor 20 Jahren Menschen schwachsinnige Aufkleber von Radiosendern ans Gefährt geklatscht haben, in der Hoffnung, von einem Außenteam des Senders damit entdeckt zu werden und 100 DM zu gewinnen.*
Eine Zeitlang war das Bepflastern seines fahrbaren Untersatzes mit vermeintlich witzigen Botschaften unabdingbare Pflicht eines jedenProvinzjugendlichen, der sich echtes Tuning nicht leisten konnte. Ich kann mich an Rostlauben erinnern, die nur noch von Aufklebern zusammen gehalten wurden. Vermutlich ist uns hier wieder mal unbemerkt ein Stück Alltagskultur verloren gegangen, obwohl man über den Wert dieses Verlustes natürlich geteilter Meinung sein kann. Nur eins steht dabei zweifelsfrei fest: boulevardmagazintauglicher Schmus wie "Wir haben uns getraut" aus dem Kai-Pflaume-Plattitüden-Lexikon ist einfach kein adäquater Ersatz.

Die einzigen, die heute noch die Fahne der Aufkleberfetischisten hochhalten, sind Trucker, Christen und Vignettensammler. Erstere wissen seit Jahr und Tag mit allerlei schmerzfreien "Meiner ist 10 Meter lang"-Messages zu begeistern und lassen die nur mäßig daran interessierte Welt per Blechschild wissen, daß sie Hotte, Manni oder Klaus heißen. Christliche Mitbürger dagegen protzen lieber mit der Länge ihres Fisches ihrem Fischaufkleber; ich dachte tatsächlich jahrelang, der Deutsche Anglerverband wär die Verein mit der höchsten Mitgliederzahl in Deutschland.

Am schlimmsten sind aber die Vignettensammler, die ihre Frontscheiben mit bunt schillernden Maut-Vignetten, Fähr- und Campingplatz-Gebührenmarken zukleistern, daß sie kaum noch herausschauen können. Diese besondere Art von Exhibitionismus dient ausschließlich der Zurschaustellung vermeintlich touristischer Abenteuerlust, als würde die Sammlung österreichischer Maut-"Papperl" der letzten dreißig Jahre für irgend etwas anderes sprechen als für die sterbenslangweilige, kleinbürgerliche Berechenbarkeit des jeweiligen Fahrzeughalters.

*) Aus ähnlichen Gründen haben sich damals Leute allen Ernstes am Telefon bei jedem Anruf (Anruferkennung gab's noch nicht) mit "DreiundachtzigKommaFünf- das beste Radio im Norden" gemeldet, im festen Glauben daran, daß irgendein Radiomoderator bei ihnen anrufen würde. Zu gewinnen gab's dann in der Regel einen selbstgehäkelten Topflappen mit Senderlogo.

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