Donnerstag, 4. August 2011

Eine Stunde im Leben eines Beklopptenjägers

11:35 Uhr: Ich betrete eine Orthopädiepraxis im Münchner Westen. Eine Praxis-Angestellte vom Format einer bulgarischen Gewichtheberin begrüßt mich mürrisch. Ich werde mit blutunterlaufenen Augen taxiert und in Sekundenschnelle als nerviger, weil gesetzlich versicherter und unabweisbarer Schmerzpatient, identifiziert.

Eine weitere menschliche Knödelburg weist mir mit ausgestrecktem Wurstfinger den Weg ins Wartezimmer. Eine halbe Stunde „Gala“-Lesen später (ein Magazin von Bekloppten für Bekloppte mit Bildern von Bekloppten) nutzt eine dritte Kampfschwimmerin (etwas weniger adipös, dafür umso mürrischer) ihre Chance, es ihren Kolleginnen gleich zu tun und mir ebenfalls das Gefühl zu geben, den Praxisablauf zu stören. Sie platziert mich ohne die vorher fällige Beratung und nach der wohl knappsten Anamnese der Medizingeschichte („Wo tut‘s weh?“- „Da.“) unter einem altersschwachen Röntgenapparat, der den Eindruck macht, als hätte ihn der Erfinder noch eigenhändig zusammengeschraubt. Dann schleudert sie mir einen kiloschweren Bleilappen in den Intimbereich, wodurch eben jene Teile in Mitleidenschaft gezogen werden, die eigentlich geschützt werden sollten. Kurz geht mir noch durch den Kopf, daß ich eigentlich auch für den Rest meines Körpers gern so einen Bleischutz hätte, weil ich ja auch an allen anderen Körperteilen meine Freude habe, da ist das Fotoshooting auch schon vorbei, bevor jemand „Käsekuchen“ sagen kann.

Weitere 10 Minuten Wartezeit verbringe ich im Schatten eines Plakats, das dem unter Hyperhidrose (übermäßiges Schwitzen) Leidenden schnelle Abhilfe verspricht, wenn er selbiges dem Praxis-Team gegenüber anspricht. Während ich mich noch frage, welche Therapie man wohl in einer Orthopädie-Praxis für dieses dermatologische Problem bereithält, betritt schon der Halbgott in Weiß das Behandlungszimmer. In nur 2 Minuten hat die Krone der Ärzteschaft eine bombensichere Diagnose gestellt, ohne sich lange mit höflichen Begrüßungsfloskeln aufzuhalten oder auch nur einen mehr als flüchtigen Blick auf das völlig nutzlose Röntgenbild zu werfen. Ein Teufelskerl und Ausbund an Effizienz, der ohne Zweifel aus seiner tief empfundenen Berufung heraus, Kranke zu heilen, keine Minute seiner kostbaren Zeit mit überflüssigem Geplänkel vertut.

Während eine der Gewichtheberinnen mir meine AU-Bescheinigung ausdruckt, fällt mein Blick auf ein in den Büro-Schrank geheftetes Schreiben einer Radiologie-Praxis aus dem Jahre 2009. Hierin teilt die Praxis dem Arzt ganz offiziell mit, daß sie ab sofort eine getrennte Anmeldung für gesetzlich und privat Versicherte einführen, inklusive Sonderrufnummer für die Privat-Anfragen. „Danke sehr!“, denke ich, und schicke eine stumme Verwünschung an alle Gesundheitspolitiker, die je behauptet haben, es gäbe keine Zwei-Klassen-Medizin in Deutschland.

Abschließend konstatiert Dr. Tausendsassa, daß ich nunmehr Einlagen bräuchte, um meine durchgetretenen Gehorgane in die von der medizinischen Fachpresse festgelegte Form zu pressen (dieses Jahr sind Spreizfüße mit verkürztem Quergewölbe in Fliederfarben mega-in). Woraufhin die Arzthelferin, ein aufrecht gehender Leberkäs mit Augen, meinen Tag mit der Frage krönt, ob ich denn bereits einen orthopädischen Schuhmacher hätte. Und zwar im selben Ton, als hätte sie mich gerade nach meinem Lieblings-Bäcker gefragt.

Vermutlich hat sie sich ja bei dieser Frage nichts gedacht (wie auch bei der allmorgendlichen Frage „Soll ich die dritte Schweinshaxe gleich essen, oder warte ich bis nach dem Zähneputzen?“). Aber genauso gut hätte sie mich fragen können, ob ich eine gute Rollator-Werkstatt kenne, ob ich meine Dritten nachts auch in Domestos bade oder ob ich eine Gratis-Packung „Granufink“ mitnehmen möchte. Ich bin zwar einerseits kein drahtiger Achtzehnjähriger mehr, dem das Testosteron aus den Ohren kocht, anderseits war ich das auch nie. Stattdessen bin ich – das darf ich in aller Bescheidenheit sagen – ein kompakt-sportlicher Enddreißiger in der Blüte seiner Jahre, der bisher gut ohne Körperergänzungen und –teile aus der Fabrik zurecht gekommen ist und dem man dies auch durchaus ansieht.

Aus diesem Grund kann man die Frage, ob ich denn einen orthopädischen Schuhmacher hätte, durchaus als Beleidigung auffassen. Dies tat ich denn auch. Nur weil Tortenamazonen wie sie mit ihren besenreiserverzierten Gehwarzen alle halbe Jahre zum Hufschmied galoppieren müssen, damit der ihnen Sommer- und Winter-Profile in die Hornhaut schnitzen kann, heißt das noch lange nicht, daß sämtliche anderen Mitmenschen ebenfalls ähnlich gearteter Dienstleistungen bedürfen.

Nur meiner guten Erziehung ist es zu verdanken, daß ich ohne pejorative Einlassungen die Praxis verlasse.

12:10 Uhr: Der Ingenieurskunst italienischer Zweiradbauer* habe ich es zu verdanken, daß ich mich nicht per pedes zum nächst gelegenen Lidl begeben muß.( Ich gehe davon aus, daß der Sommer, von mir unbemerkt, zu Ende gegangen ist, denn es aufgehört hat zu regnen.) Da mein lädierter Fuß sich nicht negativ auf die Notwendigkeit zur Nahrungsaufnahme ausübt, erst recht nicht beim Rest der Familie, muß ich zwangsläufig etwas zu essen einkaufen, Fuß hin, Fuß her.

Als ich nach kurzem Einkauf den Parkplatz verlasse, parkt nebenan eine Dame auf dem deutlich als solcher markierten Mutter-Kind-Parkplatz. In ihrem Auto sind keinerlei Kinder zu entdecken, so sie sich nicht im Kofferraum verstecken. Ein zweiter Blick auf die Dame läßt die letztere Möglichkeit nicht mehr ganz so unwahrscheinlich erscheinen. Denn was da dem Wagen entsteigt, ist als runzliges Alkoholwrack nur unzureichend beschrieben. Mit unsicherem Gang und mascaraverklebten Wimpern würde das Wesen, das ich im Prinzip mal vorsichtig geschätzt für eine „Endfünfzigerin“ halten würde, auch nach der Behandlung mit einer Familienpackung Botox noch immer wie die Mutter von Keith Richards aussehen. Ich verkneife mir die Frage, wieso sie ausgerechnet den Mutter-Kind-Standplatz blockiert, da ich ohnehin nicht wirklich mit Einsicht rechne, und rollere fassungslos von hinnen.

12:11 Uhr: Ich fahre hinter einem Mann her, der offenbar vergessen hat, daß er sich auf einer Hauptstraße befindet. Vielleicht leidet er auch an Tachophobie**, jedenfalls kriecht er mit ca. 30 Stundenkilometern die Straße entlang und betrachtet interessiert die vorüberziehenden Häuser. Und das so eindringlich, daß er mit seinem Gefährt auch immer wieder über die Straßenmitte hinweg auf die Gegenspur driftet.
Offenbar wähnt sich der Geschwindigkeitsallergiker vor mir in einer Touristen-Bimmelbahn auf Sightseeing-Tour durch die Münchner Außenbezirke. Oder auf einem Kinder-Karussell.

Leider kann ich nicht überholen, da mein 50er Roller in etwa über das Temperament und das Beschleunigungsverhalten eines Benzin-Rasenmähers verfügt. Und jedes Mal, wenn ich doch mal aus lauter Sorge, es nicht bis zum Anbruch des Winters rechtzeitig nach Hause zu schaffen, zum Überholen ansetze, beschleunigt Prinz Valium wie unabsichtlich um 2 bis 3 km/h. Gerade so viel, daß ich vor dem Gegenverkehr kapitulieren und mich wieder zurückfallen lassen muß.

Während ich jeden Moment damit rechne, von einer zufällig vorbeikommenden Wanderdüne überholt zu werden und Überlegungen anstelle, ob der Mann vielleicht schon vor Stunden das Zeitliche gesegnet hat, mittlerweile die Leichenstarre den Fuß aufs Gas drückt und er nun so lange posthum durch München fahren muß, bis der Tank leer ist, blinkt er plötzlich abrupt und biegt in eine Nebenstraße ein.

Vielleicht habe ich ihm ja Unrecht getan, und der arme Tropf verdient seinen Lebensunterhalt damit, offene Nitroglycerin-Fläschchen an Steinbrüche zu liefern. Trotzdem war ich froh, nach einer Stunde unter Bekloppten wieder zuhause zu sein.

Dort wohnt nämlich nur ein Bekloppter: Ich.

PS: Wer noch Zweifel am Irrsinn der Münchner hat, der möge sich begreiflich machen, daß hier ein 10 x 10 Zentimeter großes Stück Zwetschgendatschi ca. zwei Euro vierzig kostet. Das sind 240 Euro pro Quadratmeter Zwetschgenkuchen. Wohingegen die Wohnfläche in München im Schnitt ca. 4000 Euro pro Quadratmeter kostet. Wer also richtig Geld sparen möchte, der möge sich ein Haus aus Zwetschgenkuchen bauen, und zwar auf einem Grundstück voller Zwetschgenkuchen. So irre wie die Münchner Preise wäre so ein Vorhaben gar nicht. Man müßte nur die Wespen irgendwie unter Kontrolle bekommen…

*) auch wenn das Ding eigentlich in China zusammengeschraubt wurde
**) die Angst vor Geschwindigkeit

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